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1 Jahr AKW-Ausstieg: Was ist dran an den Mythen?

Am 15.04.2023 ging in Deutschland mit der Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke Emsland, Neckarwestheim und Isar die Ära der Kernkraft zu Ende. Zuletzt hatte die Kernkraft noch einen Anteil von 1,5 Prozent an der öffentlichen Nettostromerzeugung.

Lebenszyklus der Kernenergie in Deutschland.
Lebenszyklus der Kernenergie in Deutschland.
Im letzten Betriebsjahr vom 16.04.2022 bis zur Abschaltung am 15.04.2023 haben die deutschen Kernkraftwerke 29,5 TWh Strom erzeugt.
Im letzten Betriebsjahr vom 16.04.2022 bis zur Abschaltung am 15.04.2023 haben die deutschen Kernkraftwerke 29,5 TWh Strom erzeugt.

Auch nach ihrer Abschaltung sorgen die AKWs weiter für Diskussionen. Beispielweise titelte eine Boulevard-Zeitung angesichts gestiegener Stromimporte im Sommer 2023, Deutschland sei zum „Strombettler“ geworden. Sehr oft wird auch behauptet, der Atomstrom sei durch Kohle ersetzt worden, Deutschlands Strommix also CO2-intensiver als vorher.

Doch was ist dran diesen Behauptungen? Der Gründer der Datenplattform Energy-Charts, Prof. Bruno Burger, zeigt anhand von Strommarktdaten auf, wie sich der Atomausstieg ausgewirkt hat. Für die Plattform werden Rohdaten aus einem Dutzend Quellen stündlich oder täglich abgerufen und für die interaktive grafische Darstellung aufbereitet. Die Webseite will einen Beitrag zur Transparenz und Versachlichung der Diskussion um die Energiewende leisten.

Ist Deutschland zum „Strombettler“ geworden, weil die Stromimporte gestiegen sind?

Die Importe sind 2023 gestiegen, obwohl Deutschland genügend Kraftwerkskapazität hatte, um sich jederzeit selbst zu versorgen. Einer Last (Summe aus dem Stromverbrauch und den Netzverlusten) von etwa 75 GW stehen in Deutschland etwa 90 GW an nicht-fluktuierenden Erzeugungskapazitäten gegenüber. Dazu kommen noch die erneuerbaren Erzeuger Solar (ca. 85 GW) und Wind (ca. 70 GW) und die Pumpspeicher  (ca. 9,5 GW).

Grund für die stärkeren Importe sind also nicht mangelnde Erzeugungskapazitäten in Deutschland, sondern die  Börsenstrompreise. Diese sind in letzter Zeit deutlich gefallen. Im Sommer haben die erneuerbaren Kraftwerke in den Alpen und in Dänemark, Norwegen und Schweden, günstigen Strom erzeugt, so dass die deutschen Kohlekraftwerke nicht konkurrenzfähig waren. Hinzu kam im Sommer, dass viele Kernkraftwerke in Frankreich nach den Ausfällen im Jahr 2022 wieder an Netz gingen und gleichzeitig der Stromverbrauch in Frankreich gering war.

Im Jahresvergleich (jeweils von 16. April bis 15. April) weist Deutschland ca. 22,5 TWh Importe statt ca. 21,3 TWh Exporte im Saldo auf.
Im Jahresvergleich (jeweils von 16. April bis 15. April) weist Deutschland ca. 22,9 TWh Importe statt ca. 21,3 TWh Exporte im Saldo auf.

Ist die Nutzung von Kohle, Öl oder Gas und damit der Ausstoß von CO2-Emissionen nach dem Atomausstieg gestiegen? 

Die Nutzung von fossilen Energien zur Stromerzeugung in Deutschland ist nicht gestiegen, sondern deutlich zurückgegangen. Sie lag 2023 auf dem niedrigsten Stand seit 1965. Insgesamt wurden zwischen 16. April 2023 und 15. April 2024 etwa 155 TWh Strom aus Kohle, Erdgas, Öl und nicht-erneuerbarem Müll erzeugt, das ist liegt deutlich unter den Werten der Vorjahre und 26% weniger als im Vorjahreszeitraum.

Die Stromerzeugungslücke wurde durch verschiedene Maßnahmen gefüllt: mehr Erzeugung aus erneuerbaren Energien, Strom sparen, Eigenstromerzeugung aus PV, eine reduzierte Last und Importe.

Die fossilen Energieträger lieferten 26 % weniger als im Vorjahreszeitraum.
Die fossilen Energieträger lieferten 26 % weniger als im Vorjahreszeitraum.
Im ersten Jahr ohne Kernenergie wurden ungefähr 270 TWh erneuerbarer Strom erzeugt. Das sind 13,8 % mehr als im Vorjahreszeitraum.
Im ersten Jahr ohne Kernenergie wurden ungefähr 270 TWh erneuerbarer Strom erzeugt. Das sind 14 % mehr als im Vorjahreszeitraum.
Last (Stromverbrauch plus Netzverluste) jeweils vom 16.04. eines Jahres bis zum 15.04. des Folgejahres. Im ersten Jahr ohne Kernenergie wird die Last bei 458 TWh liegen. Das sind 2,1 % weniger als im Vorjahreszeitraum.
Last (Stromverbrauch plus Netzverluste) jeweils vom 16.04. eines Jahres bis zum 15.04. des Folgejahres. Im ersten Jahr ohne Kernenergie wird die Last bei 459 TWh liegen. Das sind 2 % weniger als im Vorjahreszeitraum.

Wie hat sich die Abschaltung auf die Strompreisentwicklung ausgewirkt?

Die Strompreise an der Börse (Day-Ahead) sind auf dem Niveau von Juni 2021, also niedriger als vor dem Ukrainekrieg.

Der durchschnittliche monatliche Day-Ahead Börsenstrompreis liegt im April 2024 bei 48,39 Euro/MWh. Er ist damit auf dem Niveau von Februar 2021. Daten bis 15.04.2024.
Der durchschnittliche monatliche Day-Ahead Börsenstrompreis liegt im April 2024 bei 48,39 Euro/MWh. Er ist damit auf dem Niveau von Februar 2021. Daten bis 15.04.2024.

Die Strompreise der Haushalte haben sich auch erholt und liegen für Neukunden auf dem Niveau vom 04. Juni 2021.

Quelle: https://www.verivox.de/strom/strompreise/
Der Strompreis für Neukunden lag am 09. April 2024 bei 25,95 Cent/kWh. Das ist das Niveau vom 10. Juni 2021. Quelle:https://www.verivox.de/strom/strompreise/

Die Auswertung des Zeitraums Mitte April 2023 bis Mitte April 2024 zeigt also, dass der Wegfall der Kernkraft in Deutschland gut kompensiert werden konnte. Entgegen der Behauptungen lag der Anstieg beim Import nicht an mangelnden Erzeugungskapazitäten in Deutschland, sondern an den günstigen Erzeugungspreise der erneuerbaren Kraftwerke in den Alpen und in Skandinavien.

Bruno Burger

Prof. Bruno Burger arbeitet als Abteilungsleiter »Neue Bauelemente und Technologien« am Fraunhofer ISE

Er hat an der Universität Karlsruhe Elektrotechnik studiert und dort promoviert. Seit 2001 arbeitet er am Fraunhofer ISE, wo er die Abteilung Leistungselektronik aufbaute und bis 2013 leitete.
Seit 2011 beschäftigt er sich mit der Visualisierung von Energiedaten und betreibt seit 2014 die Seite energy-charts.de, auf der stündlich aktualisierte Energiedaten in Form von attraktiven Grafiken zur Verfügung gestellt werden.

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