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Projekt „OVRTuere“: Wir müssen Überspannung reden

Stromnetze sind das Rückgrat unserer Gesellschaft und Wirtschaft. Deshalb ist ihre Stabilität ein zentrales Thema beim Umbau unseres Energiesystems von Großkraftwerken hin zu vielen dezentralen Anlagen. Ein Phänomen, das dabei in den Fokus der Netzbetreiber rückt, sind zeitweilige Überspannungsereignisse. Diese können z.B. nach einem Kurzschluss im Netz auftreten. Im schlimmsten Fall führt eine Überspannung zur Zerstörung von elektrischen Anlagen oder einem Zusammenbruch des Energiesystems. Die nationalen und internationalen Netzanschlussrichtlinien fordern deshalb von Großverbrauchern und Erzeugungsanlagen, dass sie auf Überspannungsereignisse reagieren können. Aber: Bisher gab es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, wie oft und in welchem Ausmaß solche Ereignisse auftreten.

Im Projekt „OVRTuere- Over Voltage Ride Through – Zeitweilige Überspannungen und abgeleitete Regeln für einen effizienten und sicheren Netzbetrieb“ sind wir deshalb Überspannungsereignissen auf den Grund gegangen: Wie entstehen sie? Wie häufig und umfangreich sind sie? Wie können Energieanlagen geschützt werden?

Bei der Frage nach den Ursachen sind wir einem interessanten Phänomen auf die Spur gekommen: sie treten oft nach einer Unterspannung auf, wenn nach einem Netzkurzschluss die Spannung wieder hochfährt. Es hat sich gezeigt, dass ins Besondere Windkraftanlagen, einige Zeit brauchen, bis sie nach einem Netzfehler wieder die volle Leistung bereitstellen können. Verstärkt wird dieses Phänomen dadurch, dass erneuerbare Energien-Anlagen die Netzunterstützung nach Ende einer Unterspannung noch einige Sekunden aufrechterhalten, was zu einer zeitweiligen Überspannung führen kann. . Das heißt, wir haben es hier auch mit einem regionalen Phänomen zu tun, das z.B. in Gegenden mit vielen Windkraftanlagen häufiger auftritt.

Im Multi-Megawatt-Labor des Fraunhofer ISE haben wir das Überspannungs-Szenario anschließend im Laborversuch nachgebildet, um besser zu verstehen, was da genau passiert. Wir haben gesehen, dass Geräte nur die Unterspannung erkennen und sich dort korrekt verhalten – die Überspannung detektieren sie aber nicht mehr und verhalten sich zum großen Teil falsch. Entweder zeigen sie gar keine Reaktion oder aber sie schalten ab, was die Situation nur verschlimmert.

Im nächsten Schritt haben wir uns die Netzausbaupläne und die Pläne der Bundesregierung für den Ausbau der erneuerbaren Energien angeschaut. Wir haben uns gefragt, wie unser Stromnetz in 20, 30 Jahren aussehen wird. Dabei haben wir erkannt, dass eine Zunahme an Überspannungsereignissen durch mehr erneuerbare Energien-Anlagen tatsächlich zu einem Problem für die Netzstabilität werden kann. In der neuen Netzanschlussrichtlinie wird insofern auf das Problem reagiert, dass die Geräte nun höhere Spannungen vertragen müssen. Unserer Meinung nach wäre es kostengünstiger, das Netz mit Kompensationseinrichtungen wie zum Beispiel mit FACTS zu verstärken, worauf wir auch hingewiesen haben. Und uns wäre wichtig, dass auch ein Labortest von Geräten in einem Szenario Unter-/Überspannung in die Norm Einzug findet.

Überspannung folgt auf ein Unterspannungs-Ereigniss. ©Marina Caroline Brenner, „Development of a model of the German Transmission Network for the analysis of temporary overvoltages“, 2020

Wie viel Sicherheit ist nötig?

Auf der Ebene der Geräte haben wir uns angeschaut, welche Kosten einem Hersteller von z.B. Windkraftanlagen entstehen, wenn er seine Geräte so umbaut, dass sie 10 oder 20 Prozent mehr Spannung aushalten. Hersteller elektrischer Anlagen haben die Sorge, dass die Richtlinien Anforderungen vorgeben, die in der Realität nicht auftreten. Dann wären die Geräte over-engineered – und entsprechend teuer, was für deutsche oder europäische Hersteller ein Wettbewerbsnachteil ist. 

Leider gibt es hier je nach Land unterschiedliche Anforderungen: in einem Land müssen die Geräte nur 15 Prozent Mehrspannung aushalten, in einem anderen sogar 30 Prozent. Auch die Anforderungen an Tests der Geräte sind verschieden. Für Hersteller ist das schwierig und teuer, weil sie für verschiedene Länder verschiedene Geräte entwickeln müssen – obwohl wir in Europa das gleiche Netz haben. Eine zumindest europaweite Harmonisierung wäre also sinnvoll.

Unser Projektteam hat mehrere Konzepte entwickelt, wie man möglichst kostengünstig mit Überspannung umgehen kann. Eine Möglichkeit ist, verstärkt Kompensationseinrichtungen im Netz auszubauen, die im Fehlerfall die Spannung stabilisieren können.. Wir glauben nicht, dass höhere Spannungen als 110 Prozent des Nennwertes auftreten werden, weil das Netz automatisch ausgebaut wird. Im Ausbauplan sind schon entsprechende Kompensationseinrichtungen vorhergesehen. Solche Einrichtungen sind bereits überall im Netz installiert, man müsste nur schauen, wo es viele ältere Anlagen mit teils alten oder ganz ohne Überspannungsfähigkeiten gibt, und dort verstärkt nachrüsten.

Am Fraunhofer ISE werden erneuerbaren Energien-Anlagen wie dieser Batteriespeicher auf ihre Überspannungsfähigkeit hin getestet. @Fraunhofer ISE
Am Fraunhofer ISE werden erneuerbaren Energien-Anlagen wie dieser Batteriespeicher auf ihre Überspannungsfähigkeit hin getestet. © Fraunhofer ISE

Prüfungen auf dem Prüfstand

Ein weiteres Arbeitsfeld sind die Prüfstände, auf denen die Testanforderungen der Richtlinie geprüft werden. Auch hier gibt es bislang keinen Standard. Wir haben sechs mögliche Prüfstände in unserem Labor und im Feld darauf hin geprüft, ob sie die Tests nach den Richtlinien abdecken können.

Letztlich haben wir Geräte wie Batterieumrichter, Wechselrichter, Windkraftanlagen und Blockheizkraftwerke entsprechend der aktuellen und den zukünftigen Testanforderungen geprüft, um zu schauen, ob sie diesen gerecht werden. Zudem arbeiten wir in einem Arbeitskreis mit, der die Prüfanforderungen entwickelt, die sich aus den Netzanschlussrichtlinien ergeben.

Das heißt, wir sind das Problem von ganz verschiedenen Seiten angegangen, um aus Sicht von Netzbetreibern, Geräteherstellern und dem Energiesystem die beste Lösung zu finden. Nun kommt es darauf an, dass schnell reagiert wird, denn Netzplanung und -ausbau sind Prozesse, die oft Jahrzehnte dauern, und wir werden innerhalb der nächsten 10 Jahre unser Energiesystem massiv umbauen.

Weiterführende Informationen

Projektwebseite OVRTuere: https://www.ise.fraunhofer.de/de/forschungsprojekte/ovrtuere.html

Schlussbericht Projekt OVRTuere: ab Ende Oktober 2022 verfügbar über https://www.tib.eu/de/ 

Veranstaltungstipp: Präsentation „Temporary Overvoltages and their Impact on Grid Security – Final Results from the Joint Research Project OVRTuere“, 21. Wind & Solar Integration Workshop, Den Hague, 12.10.2022 16:10 Uhr. Informationen auf https://windintegrationworkshop.org/agenda/

Sebastian Kaiser

Sebastian Kaiser arbeitet nach einem Studium der Elektro- und Informationstechnologie am KIT Karlsruhe seit 2018 am Fraunhofer ISE. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind Spannungsqualität, Netzintegration von PV-Anlagen, Labortätigkeiten (Untersuchen, Messen, Auswerten, Prüfen) und die Netzanschlussrichtlinien. Seit 2020 ist er Projektleiter für „OVRTuere“.

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